Humangenetik

Grundlagen, Beratung und Diagnostik
Was ist Humangenetik?

Die Humangenetik befasst sich mit dem menschlichen Erbgut und dessen Veränderungen, die Einfluss auf die Entstehung von Krankheiten (Erbkrankheiten) haben können.

Unser Erbgut befindet sich in den Zellkernen, verteilt auf die paarweise vorkommenden Chromosomen. Der menschliche Chromosomensatz besteht aus insgesamt 46 Chromosomen, d. h. 23 Paaren. 22 Paare sind bei allen Menschen gleich. Ein Paar, die sog. Geschlechtschromosomen X und Y, bestimmen das Geschlecht. Frauen haben zwei X-Chromosomen (Chromosomensatz 46,XX), Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom (Chromosomensatz 46,XY).

Die Chromosomen wiederum bestehen aus der DNA (deoxyribonucleic acid), dem Bauplan (Gene) für  alle unsere Proteine. Varianten oder Veränderungen in diesem Bauplan können der Grund für die Entstehung von Erbkrankheiten sein. Etwa 3% aller Kinder kommen mit einer genetisch bedingten Krankheit, Fehlbildung oder Behinderung zur Welt; schließt man die spätmanifesten Krankheiten ein, so erhöht sich die Zahl auf 7–8%. Dies verdeutlicht die Relevanz genetisch bedingter Erkrankungen in der Medizin. Auch aufgrund des Wissenszuwachses und der Entwicklung neuer Untersuchungstechniken in den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Humangenetik zu einem zentralen Fach der Medizin entwickelt. Immer dann, wenn sich Anhaltspunkte für eine genetisch bedingte Erkrankung oder Risiko ergeben, sollte die/der Betroffene über die Möglichkeit der genetischen Beratung und Diagnostik informiert werden.

Erbgänge
Autosomal-dominanter Erbgang

Jeder Mensch hat normaler­weise von den meisten Genen zwei Kopien (jeweils eine von jedem Elternteil geerbt) in jeder Körperzelle. Bei einem autosomal-dominanten Erbgang genügt es, wenn eine der beiden Genkopien eine veränderte Variante enthält, um die Ausprägung eines Krankheitsbildes oder Merkmals zu bedingen. Die krankheitsursächliche Variante wird dabei mit einer Wahr­scheinlichkeit von jeweils 50% von einem betroffenen Elternteil an direkte Nachkommen beiden Geschlechts vererbt. In etwa 90% der Fälle wird die Variante von einem ebenfalls betroffenen Elternteil geerbt. In etwa 10% der Fälle ist die erkrankte Person die bzw. der erste Betroffene in der Familie, man geht dann von einer neu entstandenen (de novo) Veränderung aus.

Der Grad der Merkmalsausprägung kann auch innerhalb einer Familie unterschiedlich sein; man spricht dann von einer variablen Expressivität. Bei einigen dominant vererbten Erkrankungen liegen Symptome nicht bei allen Trägern der Veränderung vor; in diesem Fall spricht man von unvollständiger Penetranz. Die Ursachen einer unvollständigen Penetranz können einerseits modifizierende Gene, andererseits exogene Faktoren sein; sie sind aber größtenteils nicht bekannt. Homozygotie, also dieselbe Veränderung von beiden Kopien eines Gens, bei einem autosomal-dominanten Erbgang ist selten.  Auch die Art der Wirkung der genetischen Veränderung (z.B. Haploinsuffizienz, „Gain of Function“ oder ein dominant-negativer Effekt) beeinflusst den Phänotyp, also die klinische Ausprägung.

Autosomal-rezessiver Erbgang

Bei einem autosomal rezessiven Erbgang tritt eine Erkrankung erst dann in Erscheinung, wenn die betroffene Person zwei veränderte Genkopien trägt. Träger von nur einer veränderten Genkopie sind in der Regel gesunde Anlageträger. Typischerweise wird beim rezessiven Erbgang eine veränderte Genkopie vom Vater und eine weitere von der Mutter ererbt. Daher sind bei einem autosomal rezessiven Erbgang meistens nur ein Familienmitglied oder mehrere Geschwister betroffen, während die Eltern gesunde Anlageträger sind.  Sind beide Eltern Anlageträger für die Erkrankung besteht in jeder weiteren Schwangerschaft ein Wiederholungsrisiko für ein betroffenes Kind von 25%. 50% der Nachkommen sind ebenfalls gesunde Anlageträger, 25% tragen keine veränderte Genkopie.

X-gebundener Erbgang

Manche Erkrankungen folgen einem X-gebundenen Erbgang, das bedeutet, dass die Veränderung auf dem X-Chromosom liegt. Bei diesem Erbgang gelten folgende Regeln:

1)   Die Veränderung in der Erbanlage betrifft bei Frauen in der Regel nur eines der beiden X-Chromosomen. Aus diesem Grund zeigen Frauen meist nur abgeschwächte oder keine Symptome der Erkrankung, Das zweite X-Chromosom ist bei Frauen in der Lage, die Variante auf dem anderen X-Chromosom weitgehend auszugleichen. Frauen mit einer veränderten Erbanlage sind Überträgerinnen der Erkrankung.

2)   Eine Überträgerin gibt das X-Chromosom mit dem veränderten Gen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% an ihre Nachkommen weiter. Das heißt, dass eine Tochter mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% ebenfalls Überträgerin der Erkrankung sein wird. Ein Sohn wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% von der Erkrankung betroffen sein, weil er kein zweites X-Chromosom hat, das die Veränderung in der Erbanlage ausgleichen könnte.

3)  Ein betroffener Vater kann die veränderte Erbanlage nicht an seine Söhne weitervererben, weil die Söhne vom Vater stets das Y-Chromosom erhalten. Alle Töchter eines betroffenen Vaters sind Überträgerinnen der Erkrankung.

X-gebunden vererbte Erkrankungen manifestieren sich im männlichen Geschlecht, da Männer nur ein X-Chromosom besitzen (Hemizygotie) und somit eine krankheitsversursachende Veränderung in einem X-chromosomalen Gen nicht kompensieren können. Frauen sind entweder gesunde Anlageträgerinnen für die Veränderung oder aber zeigen eine mildere Symptomatik.Bei einer Frau kann eine X-gebunden vererbte Erkrankung dann im Vollbild auftreten, wenn auf beiden X-Chromosomen eine veränderte Genkopie

Weitere Erbgänge

Neben den genannten häufigen Mendelschen Erbgängen gibt es einige andere Vererbungsmodi, die in der Genetischen Beratung ggf. berücksichtigt werden müssen:

  • Mitochondriale Vererbung (Die hierbei betroffenen Gene befinden sich als mtDNA innerhalb von Mitochondrien, die nur von der Mutter vererbt werden.)
  • Genomic Imprinting ( Unter genomic imprinting versteht man ein Phänomen, welches dazu führt, dass eine der beiden elterlichen Genkopien des imprinteten Gens inaktiv ist.)
  • Y-chromosomale (holandrische) Vererbung
    (z.B. bei Spermiogenesestörungen)
  • Co-dominante Vererbung (z.B. HLA-Haplotyp)
Beratung und Diagnostik

Die ärztliche Tätigkeit im Fachgebiet Humangenetik besteht zum einen aus der genetischen Beratung, zum anderen aus der Durchführung von genetischer Diagnostik. Aufgabe der genetischen Beratung ist es, sich im Rahmen eines Gesprächs zwischen der/dem Ratsuchenden und dem/der Arzt/Ärztin mit der individuellen Fragestellung zu befassen und die genetische Komponente der Krankheitsentstehung zu ermitteln. Somit gibt sie den Ratsuchenden die Möglichkeit, sich über Diagnose, Krankheitsverlauf und mögliche Therapie zu informieren, auch die Vererblichkeit der Erkrankung und das damit verbundene Wiederholungsrisiko sind Bestandteil dieses Gesprächs. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Erläutern humangenetischer Untersuchungstechniken mit ihren Möglichkeiten und Limitationen. Ziel der immer freiwillig in Anspruch genommenen genetischen Beratung ist die informierte eigenverantwortliche Entscheidungsfähigkeit des/der Ratsuchenden in Bezug auf Lebens- oder Familienplanung und persönliche Krankheitsprophylaxe.

Immer dann, wenn sich Anhaltspunkte für ein genetisch bedingtes Risiko ergeben, sollte die/der Betroffene über die Möglichkeit der genetischen Beratung aufgeklärt werden. Sie ist Teil der Krankenversorgung, die ärztlichen Kosten werden (in der Regel) durch die Krankenversicherung abgedeckt.

Die genetische Beratung ist ein ergebnisoffener Kommunikationsprozess (GenDG §10 Abs.3). Sie soll dem Einzelnen, einem Paar oder einer Familie helfen, medizinisch-genetische Fakten zu verstehen, Entscheidungsalternativen zu bedenken und so eine informierte, eigenständige und tragfähige Entscheidung zu treffen, insbesondere im Hinblick auf die Inanspruchnahme einer genetischen Untersuchung.

Schwerpunkte der genetischen Beratung sind:

  1. die genetische Familienberatung
  2. die individuelle genetische Beratung

Bei der genetischen Familienberatung ist die Gesundheit zukünftiger Kinder das zentrale Thema. Die häufigsten Fragestellungen sind:

  • Erkrankung oder Fehlbildung bei den Partnern oder nahen Verwandten;
  • Geburt eines Kindes mit Krankheit, Fehlbildung oder Entwicklungsverzögerung;
  • eine durch Virusinfekt, Medikamente, Strahlen, Suchtmittel belastete Schwangerschaft;
  • erhöhtes Alter der Mutter;
  • mehrere Fehl- oder Totgeburten;
  • Fertilitätsstörungen, unerfüllter Kinderwunsch;
  • Blutsverwandtschaft der Partner.

Bei der individuellen genetischen Beratung geht es um eine Erkrankung oder ein Erkrankungsrisiko des/der Ratsuchenden selbst. Voraussetzung für ein sinnvolles Vorgehen ist die Kenntnis der Diagnose. Die häufigsten Problemstellungen sind:

  • Chromosomenaberrationen;
  • Erkrankungen, die auf der Varianten eines Gens beruhen und verschiedene Erbgänge aufweisen (autosomal-dominant, autosomal-rezessiv, geschlechtsgebunden);
  • Multifaktoriell bedingte Erkrankungen, deren Ursache in einem Zusammenspiel von Genen und Umwelt liegt, z.B. Atherosklerose, Bluthochdruck, Osteoporose, Thrombophilie, Diabetes, Tumorerkrankungen, angeborene Fehlbildungen.

Jegliche genetische Diagnostik setzt die informierte Zustimmung (Informed Consent) der zu untersuchenden Person voraus. Daher sollte immer eine genetische Beratung vorausgehen, die dem/der Ratsuchenden hilft, unbeeinflusst eine individuelle Entscheidung treffen zu können.

Nach wie vor schwierig ist der Umgang mit auffälligen Befunden im Rahmen einer pränatalen oder der prädiktiven Diagnostik. Die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs oder das Wissen um eine bedrohliche Erkrankung, die nach Jahren oder Jahrzehnten auftreten wird, führt immer in ethische Grenzbereiche. Wie soll mit diesem Wissen, dem Recht auf Nicht-Wissen umgegangen werden? Dies sind Fragen, die ein wesentlicher Teil der genetischen Beratung sind. Problemlösungen ergeben sich entsprechend der persönlichen Situation, der Weltanschauung, der religiösen und ethischen Vorstellungen der Betroffenen; sie dienen ausschließlich ihrem Interesse und dem ihrer Familien. Genetische Beratung ist also immer individuell.

Gesetzliche Rahmenbedingungen

Das seit 1. Februar 2010 geltende Gendiagnostik-Gesetz (GenDG) regelt die Bedingungen, unter denen die genetische Diagnostik ablaufen soll. Die Gendiagnostik-Kommission (GEKO), die am Robert-Koch-Institut ansässig ist, soll durch Richtlinien die Vorschriften des GenDG präzisieren und die Umsetzung in die Praxis gestalten.

Das GenDG verlangt eine genetische Beratung bei jeder pränatalen und prädiktiven genetischen Diagnostik, vor der Untersuchung und nach der Befundmitteilung. Pränatal bedeutet eine genetische Untersuchung am ungeborenen Kind und prädiktiv bedeutet die Untersuchung eines klinisch gesunden Ratsuchenden auf genetische Varianten.

Jegliche genetische Diagnostik setzt neben dem Angebot der genetischen Beratung eine schriftliche Einwilligungserklärung des Ratsuchenden voraus. Der Aufklärung durch den verantwortlichen Arzt (“verantwortliche ärztliche Person” gemäß GenDG) vor der Einwilligung misst das GenDG daher hohe Bedeutung zu. Dabei muss der verantwortliche Arzt keine genetische Beratung durchführen, sondern diese ggf. empfehlen und veranlassen. Mit der Zusatzqualifikation zur fachgebundenen genetischen Beratung können auch Fachärzte anderer Fachrichtungen eine genetische Beratung vornehmen (s. Richtlinie der GEKO).

Befundempfänger nach einer genetischen Laboruntersuchung ist immer und ausschließlich die verantwortliche ärztliche Person, anders als in der genetischen Beratung, wo die schriftliche Zusammenfassung primär an den/die Ratsuchenden geht.

Das seit 1. Januar 2010 geltende Gesetz zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes hat bei auffälligen Befunden in der Pränataldiagnostik die Verpflichtung des aufklärenden Arztes aufgenommen, der Schwangeren eine vertiefende psychosoziale Beratung sowie den Kontakt zu Selbsthilfegruppen oder Behindertenverbänden anzubieten. Zwischen der Mitteilung der Diagnose und einer Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch nach § 218b Abs. 1 StGB muss eine Frist von drei Tagen liegen. Von der Schwangeren muss eine schriftliche Bestätigung über das Angebot der vertiefenden Beratung bzw. den Verzicht darauf eingeholt werden.

Ende 2011 trat das Präimplantationsgesetz (PräimpG) als neuer Paragraph 3a des Embryonenschutzgesetzes in Kraft; der Rechtsverordnung (RVO) stimmte der Bundesrat am 1. Februar 2013 zu. Das PräimpG läßt in Deutschland eine Präimplantationsdiagnostik (PID) bei bestimmten Indikationen zu. Die Indikationen sind ein erhöhtes Risiko für Fehl- oder Totgeburten oder für eine schwere Erbkrankheit aufgrund einer Anlageträgerschaft eines oder beider Eltern. Bei der PID gilt das GenDG nicht, das PräimpG sieht aber ebenfalls eine ausführliche Beratung zu den medizinischen, psychischen und sozialen Folgen der mit der PID verbundenen Maßnahmen vor. Dabei muss diese Beratung durch einen Arzt oder eine Ärztin erfolgen, der bzw. die die Maßnahmen nicht selbst durchführt.