Hämoglobinopathien

Die Hämoglobinopathien sind eine Gruppe von genetischen Erkrankungen, denen eine gestörte Bildung von Hämoglobin (Hb) zugrunde liegt. Sie zählen zu den häufigsten monogen vererbten Erkrankungen weltweit mit einer besonders hohen Prävalenz in Ländern der Mittelmeerregion, Teilen Asiens, im mittleren Osten und West-Afrika. Durch die Migration spielen sie auch eine Rolle in Mitteleuropa.

Sie werden unterteilt in Thalassämien und anomale Hämoglobine. Den Thalassämien liegt eine quantitative Synthesestörung der jeweiligen Globin-Kette zugrunde, während die anomalen Hämoglobine durch einen strukturellen Defekt in der Globin-Kette bedingt sind, die jeweils durch pathogene Varianten im alpha-Globin-Genkomplex inkl. HBA1- und HBA2-Gen bzw. im HBB-Gen verursacht werden. Die häufigsten und klinisch bedeutsamsten Thalassämien sind die alpha- und beta-Thalassämie. HbS (Sichelzellanämie), HbC und HbE sind die am weitverbreitetsten anomalen Hämoglobine.

Die minor-Formen der alpha- und beta-Thalassämie bedingen jeweils eine milde hypochrome mikrozytäre Anämie (erniedrigter MCH, MCV, ggf. erniedrigter Hb-Wert). Mittels Hb-Differenzierung kann in der Regel zwischen alpha- und beta-Thalassämie unterschieden werden, da nur die beta-Thalassämie eine Erhöhung des HbA2-Werts zeigt. Anomale Hämoglobine können ebenfalls in der Hb-Differenzierung detektiert werden. Je nach molekulargenetischem Defekt können Hämoglobinopathien zu teils sehr schweren Erkrankungen führen (z.B. Thalassaemia major, Sichelzellanämie, Hb Bart-Hydrops fetalis u.a.). Da diese auch als Mischformen aus zwei verschiedenen Thalassämien oder Hämoglobinanomalien zusammengesetzt sein können, spielt die genaue Diagnostik insbesondere auch bei Kinderwunsch von betroffenen Paaren eine wichtige Rolle.

Diagnostische Besonderheiten der Hämoglobinopathien:

Die folgende Auswahl von Beispielen gibt einen Überblick, wie wichtig die integrierte Diagnostik aus Hämatologie und Humangenetik für die richtige Diagnosestellung einer Hämoglobinopathie ist. 
Die hämatologische Untersuchung besteht aus einem kleinen Blutbild, einer Hb-Differenzierung und der Bestimmung von Serumferritin (ggfs. auch weiterer Eisenparameter) zum Ausschluss eines Eisenmangels/Eisenmangelanämie. Weist der hämatologische Befund auf eine Hämoglobinopathie hin (auffälliges Blutbild und ggf. auffällige Hb-Differenzierung), kann durch eine molekulargenetische Untersuchung des entsprechenden Globin-Gens/-Genkomplexes der hämatologische Befund verifiziert bzw. bestätigt werden.

Beispiele für eine Kombination von alpha und beta-Thalassämie bzw. Hämoglobinopathien:

  • Da Thalassämien und anomale Hämoglobine in den verschiedensten Kombinationen vorkommen können, führt häufig nur eine gemeinsame Beurteilung der Befunde aus Hämatologie (Blutbild und Hb-Differenzierung) und Molekulargenetik zu einer eindeutigen Diagnose.
  • Eine Kombination von alpha- und beta-Thalassämie führt in der Regel zu einem milderen Phänotyp der beta-Thalassämie, da das Kettenungleichgewicht durch die verringerte Expression beider Ketten abgemildert wird. Dadurch können Blutbild und Hb-Differenzierung weniger ausgeprägte Auffälligkeiten zeigen als bei Vorliegen einer isolierten beta-Thalassämie.
  • Die Kombination einer alpha-Thalassämie mit einer Hämoglobinanomalie kann zu einer Verringerung des Anteils an anomalem Hämoglobin in der Hb-Differenzierung führen.

Maskierte beta-Thalassämie (normaler HbA2-Wert trotz Vorliegen einer beta-Thalassämie):

  • Eisenmangel: ein starker Eisenmangel kann zu einem erniedrigten HbA2 führen und dadurch in der Hb-Differenzierung eine heterozygote ß-Thalassämie maskieren.
  • Stumme beta-Thalassämie: Die seltenen sog. stummen ß-Thalassämie zeigen je nach unterliegender genetischer Variante entweder keine oder nur sehr geringe Auffälligkeiten im Blutbild und keine HbA2 Erhöhung in der Hb-Differenzierung. In Kombination mit einer pathogenen Variante können sie jedoch zu einer Thalassaemia intermedia führen. Daher kann die Untersuchung bei Kinderwunschpaaren von Bedeutung sein, wenn bereits ein Elternteil Anlageträger für eine ß-Thalassämie ist.
  • delta-Thalassämie: Pathogene Varianten im delta-Globin-Gen können dazu führen, dass bei heterozygoten Anlageträgern einer ß-Thalassämie in der Hb-Differenzierung keine Erhöhung des HbA2 zu detektieren ist.

Diagnostik der anomalen Hämoglobine

Eine erhöhte Fraktion in der Hb-Differenzierung gibt einen Hinweis, welches anomale Hämoglobin vorliegen könnte. Da aber je nach verwendeter Methode verschiedene Moleküle in der gleichen Zone auftreten können, dient die molekulargenetische Analyse der Verifikation des Ergebnisses und damit der genauen Diagnosestellung

Kinderwunsch

Bei betroffenen Paaren mit Kinderwunsch sollte immer eine molekulargenetische Untersuchung durchgeführt werden, um eine genaue Risikoabschätzung für eine schwere Hämoglobinopathie bei Nachkommen geben zu können. Bei bestehendem Risiko kann eine Pränataldiagnostik oder ggf. eine Präimplantationsdiagnostik (PID) in Betracht gezogen werden.

Die folgenden Flussdiagramme zeigen die allgemeine Vorgehensweise zur Diagnostik von Hämoglobinopathien sowie speziell bei Kinderwunschpaaren:

Thalassämie FlussdiagrammFlussdiagramm zur allgemeinen Diagnostik von Hämoglobinopathien.
Thalassämie FlussdiagrammFlussdiagramm zur Diagnostik von Hämoglobinopathien bei Paaren mit Kinderwunsch.
Auffälliges Blutbild mit Mikrozytose und/oder Hypochromie und ggfs. AnämieBestimmung von Serum-Ferritin*zum Ausschluss eines EisenmangelsSerum-Ferritinerniedrigt?EisenmangelanämieEisensubstitutionHb-DifferenzierungHbA2 erhöht(HbF ggfs. erhöht)Hämoglobin-AnomalieBesteht weiterhinAnämie?3-6 Monate Fe-SubstitutionErnährungsberatungMolekulargenetischeUntersuchung aufβ-Thalassämie(HBB-Gen und ggfs. β-Globin-Genkomplex)MolekulargenetischeUntersuchung aufα-Thalassämie(α-Globin-Genkomplex,und ggfs.HBA1- und HBA2-Gen)MolekulargenetischeUntersuchung aufdie entsprechendeHb-Anomalie(HBB-Gen oder HBA1-, HBA2-Gen oderβ-Globin-Genkomplex)JaNeinJaNeinunauffälligHbA2 normalHbF erhöhtMolekulargenetischeUntersuchung aufδ-β-Thalassämie / HPFH (β-Globin-Genkomplex oder Promotorregion der γ-Globin-Gene)Kinderwunsch bei Paar mit entsprechender ethnischer Herkunft und/oder positiver FamilienanamneseBestimmung von Serum-Ferritin, kleines Blutbild und Hb-DifferenzierungEisenmangelanämieEisensubstitutionBesteht weiterhinAnämie?3-6 Monate Fe-SubstitutionErnährungsberatungNeinMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalHb-Differenzierung unauffälligV.a. α-ThalassämieMolekulargenetische Untersuchung des α-Globin-Genkomplexes und/oder des HBA1-und HBA2-GensMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin erniedrigtHb-Differenzierung unauffälligMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalHbA2 erhöhtMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalanomales HämoglobinV.a. β-ThalassämieMolekulargenetische Untersuchung des HBB-Gens und ggfs. desβ-Globin-GenkomplexesV.a. HbS, HbC, HbE, HbCS, Hb Lepore etc.Je nach Ergebnis derHb-DifferenzierungUntersuchung des HBB- und/oder HBA1/2-Gens bzw. des β-Globin-GenkomplexesAnlageträgerschaft fürHämoglobinopathie mit hoher WahrscheinlichkeitausgeschlossenAlle Parameter bei beidenPartnern unauffällig?MCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalHbA2 normal HbF erhöhtV.a. δ-β-Thalassämieoder HPFHMolekulargenetische Untersuchung des des β-Globin-Genkomplexesund/oderder Promotorregion derγ-Globin-GeneBei Nachweis einer α-Thalassämiegenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersBei Nachweis einer β-Thalassämiegenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersBei Nachweis einer δ-β-Thalassämie / HPFHgenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersBei Nachweis einesanomalen Hämoglobinsgenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersNeinJaJa

Literatur

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