Beta-Thalassämie

Dipl.-Biol. Birgit Busse, Dipl.-Biol. Wolfgang Rupprecht

Wissenschaftlicher Hintergrund

alpha Thalassämie Karte

Die Beta-Thalassämie ist eine autosomal-rezessiv vererbte hämatologische Erkrankung, die auf einer quantitativen Synthesestörung der β-Globin-Ketten des Hämoglobins beruht. Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 3% der Weltbevölkerung Anlageträger für eine Beta-Thalassämie sind, jedoch ist die Häufigkeit in den verschiedenen ethnischen Gruppen sehr unterschiedlich. Eine besonders hohe Prävalenz findet sich in den Mittelmeerländern, in Teilen Asiens, im Nahen Osten und in Westafrika (siehe Karte zur Prävalenz der Beta-Thalassämie).

Das menschliche Hämoglobin besteht aus verschiedenen Hämoglobin-Typen, die jeweils aus 4 Globinketten zusammengesetzt sind (jeweils zwei gleiche Ketten bilden ein Tetramer). Das beim Erwachsenen mit ca. 97% überwiegend vorliegende Hämoglobin A (HbA) besteht aus 2 α- und 2 β-Globin-Ketten. Bei der Beta-Thalassämie ist die Synthese der β-Ketten vermindert bzw. vollständig ausgefallen, wodurch ein Überschuss an freien α-Ketten entsteht, die eine hohe Instabilität aufweisen. Durch deren Präzipitation kommt es bereits im Knochenmark zur vorzeitigen Hämolyse der Erythrozyten bzw. ihrer Vorstufen.

Die homozygote Form der Beta-Thalassämie wird auch als Thalassaemia major bezeichnet, die heterozygote als Thalassaemia minor. Die Minor-Form zeigt meist nur eine leichte, hypochrome mikrozytäre Anämie, wesentliche klinische Symptome werden in der Regel nicht beobachtet. Bei der Intermediärform der Beta-Thalassämie (Thalassaemia intermedia) liegt der Schweregrad zwischen der Thalassaemia minor und major.

Tab.: Die verschiedenen Formen der Beta-Thalassämie
β-ThalassämiePhänotypHämatologieHb-Differenzierung
Minormeist unauffällighypochrome, mikrozytäre AnämieHbA2 ⬆,
HbF variabel
Intermediasehr variabelhypochrome, mikrozytäre AnämieHbA2 ⬆,
HbF ⬆
Major
(Cooley Anämie)
transfusionsbedürftige Anämieschwere hämolytische AnämieHbA2 ⬆,
HbF variabel

Symptome der Thalassaemia major, die auch als Cooley-Anämie bezeichnet wird, treten meist bereits in den ersten Lebensmonaten auf, sobald das fetale Hämoglobin (HbF) durch das adulte Hämoglobin (HbA) ersetzt wird. Klinisch fallen die Kinder durch eine Gedeihstörung, Hepatosplenomegalie und Ikterus auf, es besteht eine schwere mikrozytäre hypochrome Anämie mit auffälliger Erythrozytenmorphologie. Bei unbehandelten Patienten führt die gesteigerte, aber ineffektive Erythropoese durch Verbreiterung der Markräume zu charakteristischen Skelettveränderungen v.a. im Bereich der Schädelknochen. Die symptomatische Therapie der Major-Form erfolgt durch regelmäßige Bluttransfusion. Zur Vermeidung einer Eisenüberladung mit der Gefahr der Hämosiderose ist dabei  zusätzlich eine Therapie mit Eisenresorptionsinhibitoren indiziert.  Seit August 2020 besteht nun die Möglichkeit einer Behandlung transfusionsbedürftiger Erwachsener mit dem Wirkstoff Luspatercept. Die einzige kausale Behandlungsmöglichkeit ist weiterhin die Knochenmarktransplantation.

Variante Formen treten im Zusammenhang mit kombinierter Heterozygotie mit anomalen Hämoglobinen wie z.B. dem Sichelzell-Hämoglobin (HbS) oder dem Hb Lepore auf.

Die meisten heterozygoten Träger einer Beta-Thalassämie werden zufällig bei einer Routineuntersuchung entdeckt. Im Blutbild fällt eine Mikrozytose und/oder einer Hypochromie - teilweise auch ein erniedrigter Hb-Wert - auf. Im Rahmen der Diagnostik sollte zuerst ein Eisenmangel durch die Bestimmung des Serum-Ferritins ausgeschlossen werden, der die häufigste Ursache einer hypochromen mikrozytären Anämie darstellt. Im Vorfeld kann bereits durch den Mentzer-Index abgeschätzt werden, ob es sich eher um eine Eisenmangelanämie oder eine Beta-Thalassämie handelt.

Formel zur Unterscheidung zwischen Eisenmangelanämie und Beta-Thalassämie (anwendbar nur bei vorliegender Mikrozytose):

Mentzer-Index:
Interpretation:

MCV = mittleres korpuskuläres Volumen
RBC = Erythrozyten (ERY)


Ist ein Eisenmangel ausgeschlossen, kann durch eine Hb-Differenzierung das Vorliegen einer Hämoglobinopathie untersucht werden. Häufig stellt sich die Frage nach der Anlageträgerschaft einer Hämoglobinopathie erst im Rahmen eines Kinderwunsches, entweder aufgrund einer positiven Familienanamnese oder durch die ethnische Herkunft. Bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft ist eine zügige Diagnostik wichtig, um so früh wie möglich das Risiko einer schweren Form einer Hämoglobinopathie bei Nachkommen abschätzen zu können. Die detaillierte diagnostische Vorgehensweise zur allgemeinen Diagnostik von Hämoglobinopathien und zur Vorgehensweise bei Paaren mit Kinderwunsch ist in den folgenden interaktiven Flussdiagrammen dargestellt.

Thalassämie FlussdiagrammFlussdiagramm zur allgemeinen Diagnostik von Hämoglobinopathien.
Thalassämie FlussdiagrammFlussdiagramm zur Diagnostik von Hämoglobinopathien bei Paaren mit Kinderwunsch.
Auffälliges Blutbild mit Mikrozytose und/oder Hypochromie und ggfs. AnämieBestimmung von Serum-Ferritin*zum Ausschluss eines EisenmangelsSerum-Ferritinerniedrigt?EisenmangelanämieEisensubstitutionHb-DifferenzierungHbA2 erhöht(HbF ggfs. erhöht)Hämoglobin-AnomalieBesteht weiterhinAnämie?3-6 Monate Fe-SubstitutionErnährungsberatungMolekulargenetischeUntersuchung aufβ-Thalassämie(HBB-Gen und ggfs. β-Globin-Genkomplex)MolekulargenetischeUntersuchung aufα-Thalassämie(α-Globin-Genkomplex,und ggfs.HBA1- und HBA2-Gen)MolekulargenetischeUntersuchung aufdie entsprechendeHb-Anomalie(HBB-Gen oder HBA1-, HBA2-Gen oderβ-Globin-Genkomplex)JaNeinJaNeinunauffälligHbA2 normalHbF erhöhtMolekulargenetischeUntersuchung aufδ-β-Thalassämie / HPFH (β-Globin-Genkomplex oder Promotorregion der γ-Globin-Gene)Kinderwunsch bei Paar mit entsprechender ethnischer Herkunft und/oder positiver FamilienanamneseBestimmung von Serum-Ferritin, kleines Blutbild und Hb-DifferenzierungEisenmangelanämieEisensubstitutionBesteht weiterhinAnämie?3-6 Monate Fe-SubstitutionErnährungsberatungNeinMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalHb-Differenzierung unauffälligV.a. α-ThalassämieMolekulargenetische Untersuchung des α-Globin-Genkomplexes und/oder des HBA1-und HBA2-GensMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin erniedrigtHb-Differenzierung unauffälligMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalHbA2 erhöhtMCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalanomales HämoglobinV.a. β-ThalassämieMolekulargenetische Untersuchung des HBB-Gens und ggfs. desβ-Globin-GenkomplexesV.a. HbS, HbC, HbE, HbCS, Hb Lepore etc.Je nach Ergebnis derHb-DifferenzierungUntersuchung des HBB- und/oder HBA1/2-Gens bzw. des β-Globin-GenkomplexesAnlageträgerschaft fürHämoglobinopathie mit hoher WahrscheinlichkeitausgeschlossenAlle Parameter bei beidenPartnern unauffällig?MCV und/oder MCH erniedrigt Ferritin normalHbA2 normal HbF erhöhtV.a. δ-β-Thalassämieoder HPFHMolekulargenetische Untersuchung des des β-Globin-Genkomplexesund/oderder Promotorregion derγ-Globin-GeneBei Nachweis einer α-Thalassämiegenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersBei Nachweis einer β-Thalassämiegenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersBei Nachweis einer δ-β-Thalassämie / HPFHgenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersBei Nachweis einesanomalen Hämoglobinsgenetische Beratung undggfs. molekulargenetischeUntersuchung des PartnersNeinJaJa

Da Hämoglobinopathien in den verschiedenste Kombinationen auftreten können, sollten die hämatologischen Befunde immer mit den Ergebnissen aus der Molekulargenetik abgeglichen und auf Validität geprüft werden.


Literatur

Origa R. Beta-Thalassemia. 2000 Sep 28 [Updated 2018 Jan 25]. In: Adam MP, Ardinger HH, Pagon RA, et al., editors. GeneReviews® [Internet]. Seattle (WA): University of Washington, Seattle; 1993-2019  / Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. S1-Leitlinie: Thalassämie. 30.06.2016 / Kohne et Kleihauer 2010, Dtsch Arztebl Int 107:65 / Weatherall et Clegg 2001, The Thalassaemia Syndromes, 4th ed. Oxford: Blackwell Science / Kleihauer et al. 1996, Anomale Hämoglobine und Thalassämiesyndrome, ecomed Verlag / Fachinformation Rebozyl®


V.a. und DD β-Thalassämie

Ü-Schein Muster 10 mit folgenden Angaben

  • Diagnose: Beta-Thalassämie
    (ICD-10 Code: [D56.1])
  • Auftrag:
    Hämatologie: Blutbild, Hb-Differenzierung
    und/oder
    Molekulargenetik: Mutationssuche HBB-Gen, beta-Globin-Genkomplex

Hinweis:
Schriftliche Einwilligungserklärung gemäß GenDG erforderlich

Hämatologie: 5 ml EDTA-Blut
Molekulargenetik: 1 ml EDTA-Blut

Hämatologie: 1 Woche
Molekulargenetik: 2-4 Wochen

Hämatologie: Blutbild, Hb-Differenzierung